Ev. Theologie

Dieter Beese
 

Jesus und die Ehebrecherin, Joh. 8,2-11

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juli 2022, Ev. Matthäuskirche, Bochum-Weitmar

2Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.10Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Liebe Gemeinde,

ein neuer Tag beginnt, Jesus kommt in den Tempel. Ein gemischtes Publikum versammelt sich, um ihn zu hören, und er legt ihnen die Schriften aus. Er muss das nicht tun. Er tut es aus innerer Freiheit, seiner persönlichen Berufung folgend. Sie, die sich um Jesus versammeln, müssen das auch nicht tun, aber sie versprechen sich etwas davon, Jesus zu hören. Etwas verbindet sie miteinander, bevor er das Wort ergreift und sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenken. Sie wissen sich verbunden in einer gemeinsamen Geschichte, die bis in graue Vorzeiten zurückgeht. Diese gipfelt in dem Satz: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft; und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Was heißt das heute? Was heißt das für mich? Was ist, wenn ich mich mit einem Glausbensbruder überworfen habe und ihm nicht verzeihen kann? Was ist, wenn ich mit den politischen Verhältnissen nicht einverstanden bin und dem Kaiser auch noch Steuern zahlen soll? Was ist, wenn ich zwar guten Willens bin, aber doch immer wieder irgendwelchen Versuchungen nachgebe? Was ist, wenn ich zwar gläubig bin, aber mich doch fürchte, dazu auch gegenüber anderen zu stehen? Dazu möchten die Leute etwas von Jesus hören, und dazu sammeln sie sich um ihn. Dazu äußert Jesus sich in Gleichnissen, Ermahnungen, Erklärungen, provokanten Denkanstößen: „Wer mich hört, der hört den Vater.“

Jede Generation hat andere Fragen, die sie zu bewältigen hat. Wenn Martin Niemöller auf der Suche nach Antworten auf seine Entscheidungsfragen war, hat er sich die Frage gestellt: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Welche Fragestellung mag wohl hinter der Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin gestanden haben? Paulus hatte einst den Ausschluss eines Gemeindegliedes gefordert, der ein intimes Verhältnis zu seiner Stiefmutter eingegangen war. Er hatte auch keinerlei Verständnis dafür, dass die Gemeinde in Korinth den Besuch von Prostituierten durch Gemeindeglieder tolerierte. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander und die Bedeutung der Ehe waren in der Kirche immer ein großes Thema.

So ernst und aufrichtig es die Christen aller Zeiten auch mit der Ehe gemeint haben - es kam und kommt eben doch immer wieder vor, dass es halt nicht funktioniert mit der Monogamie und der Treue und der Ablehnung der Prostitution. Das ist auch für die nichtchristliche Umwelt ein Thema von Bedeutung: Wie gehen diese frommen christlichen Leute mit ihrem Zielkonflikt um: Auf der einen Seite die Moral, und auf der anderen Seite das wirkliche Leben? Hier das Gebot der Selbstbeherrschung, ja der völligen Enthaltsamkeit – dort das Gebot der Barmherzigkeit und Vergebung.

In unserer Geschichte spiegeln sich diese Streifragen wider. Die Zeit von Jesus und Paulus und der Frühzeit des Christentums liegt schon lange zurück, als die Geschichte der Begegnung von Jesus und der Ehebrecherin entsteht. Es begegnen uns die Parteien und Strömungen, denen man zu jeder Zeit in christlichen Gemeinden begegnet: Da sind einmal die Ankläger, Profis und Laien, mitsamt ihren Followern. Diese sollen sich in den Schriftgelehrten und Pharisäern der Zeit Jesu wieder erkennen. Sie gelten hier als Vertreter der guten Ordnung und treten öffentlich für das regelbasierte Zusammenleben und die Durchführung von Sanktionen ein. Dann steht da die beschuldigte Person. Die hat nichts zu melden. Ob sie etwas sagt oder nicht, ist ohnehin egal. Sie steht am Pranger. Die Zuhörer Jesu; zu ihnen gehören alle möglichen Leute, eine schweigende Mehrheit, von der man nicht weiß, wo sie steht. Ein Teil wird innerlich sagen: „Ja, das geht ja auch nicht. Strafe muss sein. Das kann man nicht durchgehen lassen." Oder er denkt: "Je lauter ich mich über die Irrwege anderer empöre, um so besser lenke ich von meinen eigenen Sackgassen ab.“ – Der nächste Teil wird sagen: „Kann denn Liebe Sünde sein? Lasst der Natur ihren Lauf und breitet den Mantel des Schweigens darüber.“ – Ein weiterer Teil wird sagen: „Ich spüre immer noch den Schmerz und die Verletzung und die Missachtung meiner Gefühle, die ich durch den Vertrauensbruch und den Verrat unserer Liebe erlitten habe. Darüber komme ich nicht hinweg.“ Ein anderer Teil wird sagen: „Wenn’s nur dieses eine Mal war; dann lasst doch fünf gerade sein.“ – Ein nächster Teil wird sagen: „Da halte ich mich lieber raus.“ Und wieder ein Teil wird sich denken: „Nur gut, dass mich letzte Woche keiner erwischt hat.“


Was also würde Jesus dazu sagen? Unsere Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin sieht es so:

Erst einmal richten sich alle Blicke auf die Ehebrecherin. (Es hätte auch ein Ehebrecher sein können. Nach dem Wortlaut des Gesetzes waren stets beide Ehebrecher, Mann und Frau, Tode geweiht, auch wenn - soweit wir es wissen, ein solches Todesurteil wegen Ehebruchs tatsächlich nie vollstreckt worden ist.) Scheinbar aber ist das Schicksal der beschuldigten Frau besiegelt und die Lage völlig klar.

Jedenfalls ist Jesus gefragt. Die Ankläger sind hartnäckig; sie fordern nicht nur eine Antwort, sie fordern ein Bekenntnis, und wehe, es ist das falsche! Entweder für das Recht oder für die Barmherzigkeit. Positioniert Jesus sich auf der Seite des Rechts, ist er unbarmherzig, und seine ganze Predigt von Liebe und Vergebung ist als hohles Geschwätz entlarvt. Oder er positioniert sich auf der Seite der Barmherzigkeit, dann untergräbt er die Regeln des Zusammenlebens und öffnet der Anarchie Tür und Tor.

Wie soll das enden? Wie werden die Wege derer weitergehen, deren Wege sich hier kreuzen?

Betrachten wir das Sache vom Ende her. Das Ergebnis ist erstaunlich! Vom Ende her betrachtet ergibt sich nämlich eine Lösung, mit der alle leben können: Die Hardliner werden nicht düpiert oder bloßgestellt. Sie haben die Möglichkeit, sich geräuschlos zurückzuziehen und ihr Gesicht zu wahren. Das tun sie auch. Niemand stellt sie an den Pranger, so wie sie selbst es mit der Ehebrecherin getan haben. Das Publikum, das sich um Jesus versammelt hatte, wird nicht aufgewiegelt gegen irgendeine Seite. Es radikalisiert sich nicht; es spaltet sich nicht; es geht auf niemanden los, weder körperlich noch mit Worten. Die Frauen nicht gegen die Männer, die Konservativen nicht gegen die Liberalen, die Betroffenen nicht gegen die Unbeteiligten, die Tugendhaften nicht gegen die Anrüchigen. Die Ehebrecherin kommt nicht nur mit dem Leben davon: Statt weiterhin auf sie zu starren, geht vielmehr jeder wieder seiner Wege und kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten, kehrt vor seiner eigenen Haustüre. Das öffentliche Interesse, Jesus in irgendeine Verlegenheit zu bringen oder in irgendeine Ecke zu stellen, ist abgeflaut, ja es ist ganz verschwunden.

Das ist eine richtige Wundergeschichte - denn wir kennen den Umgang mit sensiblen Streitfragen ja anders. Wie kriegt Jesus das bloß hin?

Erst einmal schreibt er irgendetwas in den Sand. Und dies ist nicht das Menetekel an der Wand, von dem das Buch Daniel zu berichtet wusste. König Nebukadnezar berauschte sich, so lesen wir es dort, mit seinen Großen am Sieg über das Gottesvolk Israel und trank bei der Siegesfeier aus den Gefäßen, die er aus dem Tempel geraubt hatte. Das wurde ihm zum Verhängnis. An der Wand erschien eine Schrift: „Gewogen und zu leicht befunden.“ Die Waage der göttlichen Gerechtigkeit neigt sich, und der Untergang des Königs ist besiegelt. Da hat sich einer versündigt, steht vermeintlich als großer Held in der Öffentlichkeit, aber sein Weg führt ihn ins Desaster.

Kein Mensch weiß, was Jesus da in den Sand geschrieben haben soll. Ein Todesurteil war das offensichtlich nicht, es wird sich aber letztlich als ein Lebensurteil erweisen. Dieser Vorgang verzögert allerdings das Geschehen, bringt Zeit. In dieser Zeit darf alles gesagt und gefragt oder auch beschwiegen werden. Jesus lässt sich bestürmen und bedrängen von jedem, dem gerade danach ist. Und dann beendet Jesus die Zeit von Sturm und Drang, Fragen und Fordern. Er richtet sich auf und tut einen weiteren Schritt, indem er sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Dann schreibt er wieder irgendetwas in den Sand. So ergibt sich noch einmal Zeit und Raum zum Nachdenken.

Hier wird keine allgemeingültige Regel installiert. Aber hier geschieht einfach etwas Besonderes: Alle sind angesprochen. Bemerkenswert ist: Niemand wird hier von Jesus als Vertreter einer Gruppe adressiert und auf die Merkmale irgendeiner Identität festgelegt: Du als Pharisäer musst jetzt ein frommes Zeichen setzen. Du als Schriftgelehrter musst jetzt die göttlichen Anordnungen vollziehen. Du als schweigender Zuschauer musst jetzt aus der Anonymität heraustreten und dich bekennen. Du als von Untreue und Vertrauensbruch Betroffene musst jetzt versöhnlich sein. Du, der du diese Geschichte erzählst und aufschreibst, musst jetzt als Mensch der Bildung und Wissenschaft objektiv sagen, wer Recht hat, und wer Unrecht. Und du als Christ, der du gerade im Gottesdienst deiner Gemeinde sitzt, musst das spezifisch Christliche erkennen, dich entscheiden und für die wahre Praxis engagieren.

Wer will, kann jetzt zur Tat schreiten. Womöglich darf er sich dann einreden: „Die anderen haben alle nur geredet, ich war der Erste, vielleicht der Einzige, der etwas getan hat. Ich war konsequent; ich habe den Stein geworfen und getroffen. Das hat gewirkt. Ich habe das Böse ausgetilgt.“ Dieses Mandat zur Tat ist allerdings an eine Selbsterkenntnis gebunden. Nur wer die Freiheit hat, von sich zu sagen: „Ich bin ohne Sünde“, der hat das Mandat, über Leben und Tod zu entscheiden und dieses sein Urteil zu vollstrecken. Wer diese Freiheit nicht hat, der ist allerdings auch frei. Er ist frei, zu gehen, obwohl er nicht frei von Sünde ist. Alle Menschen dürfen, obwohl sie Sünder sind, ihrer Wege gehen, geliebt, geachtet und erhobenen Hauptes.

Und so geschieht es. Nach der Begegnung mit Jesus wirft keiner den ersten Stein. Alle ziehen wieder ihrer Wege, jeder geht den seinen.

Währenddessen bleibt noch Raum und Zeit für ein offenes Wort zwischen Jesus und der beschuldigten Frau. Die Frau, nach deren Meinung bisher niemand gefragt hat, kommt nun endlich zu Wort. Sie selbst ist diejenige, die das abschließende Urteil der Versammlung spricht. Auf die Frage Jesu: „Wo sind sie, hat dich niemand verdammt?“ gibt sie selbst die Antwort: „Niemand, Herr.“ Und wie das Amen nach einem Gebet, „Amen – so soll es sein“, klingt das Abschlusswort Jesu. „So verdamme ich dich auch nicht. – Gehe hin, und sündige hinfort nicht mehr.“ Und dann können auch die beiden ihren Weg fortsetzen, Jesus und die Ehebrecherin. Genauso, wie wir, die wir hier im Gottesdienst versammelt sind, und genau dies nachher, auch tun werden - unseren Weg fortsetzen: gesegnet und gesandt, Schritt für Schritt, geliebt, geachtet und erhobenen Hauptes...

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen.